Wie Handys einen unglaublichen Druck auf uns ausüben: Leon Windscheid im Interview

Am Mittwoch (1. Juni 2022) tritt Psychologe und Bestsellerautor Leon Windscheid mit seinem Programm "Altes Hirn, neue Welt" in der Garage in Saarbrücken auf. Wir haben uns im Vorfeld mit dem 33-Jährigen unterhalten.
Dr. Leon Windscheid übersetzt psychologische Erkenntnisse in alltagstaugliche Ratschläge. Archivfoto: picture alliance/dpa | Henning Kaiser
Dr. Leon Windscheid übersetzt psychologische Erkenntnisse in alltagstaugliche Ratschläge. Archivfoto: picture alliance/dpa | Henning Kaiser

Leon Windscheid in der Garage Saarbrücken

Am Mittwochabend (1. Juni 2022) kommt Dr. Leon Windscheid mit seinem Programm „Altes Hirn, neue Welt“ in die Garage Saarbrücken. Die Show startet um 20.00 Uhr. Tickets gibt es unter „Karten für Leon Windscheid in Saarbrücken“ oder an der Abendkasse. SOL.DE hat sich im Vorfeld des Auftritts mit dem Psychologen und Bestsellerautor unter anderem über die Informationsflut der modernen Welt und den damit verbundenen Stress unterhalten.

Leon Windscheid im SOL.DE-Interview

Leon, dein Tour-Programm heißt „Altes Hirn, neue Welt“. Nun ist diese neue Welt von einer unglaublichen Schnelllebigkeit und vor allem von einer Informationsflut geprägt. Auf der Arbeit versenden wir statt zehn Briefen plötzlich 100 E-Mails. Im privaten Bereich kommunizieren wir jeden Tag mit zwanzig statt mit fünf Leuten. Wenn ich mir etwas Neues kaufen will, habe ich inzwischen die Auswahl zwischen unzähligen Produkten. Was macht diese Reizüberflutung mit unserem Hirn?

Unser Kopf ist schon immer damit beschäftigt, auszuwählen, welche Reize durchkommen in unser Bewusstsein. Das ist so ein bisschen wie ein Türsteher, der vor dem Bewusstsein entscheiden muss: Was lasse ich durch? Das ist ein ganz natürlicher Prozess. Was wir heute aber als Problem haben, ist, dass ganz viel versucht, an dem Türsteher vorbeizukommen, obwohl wir das eigentlich gar nicht wollen und das nicht wirklich in unserem Interesse ist. Du wachst morgens auf und das Erste, was dich anschreit und du in die Hand nimmst, das ist dein Handy. Du gehst durch den Tag, du gehst durchs Leben und dann prasseln allmählich E-Mails auf dich ein. Leute wollen was von dir, du musst gut im Job sein. Du willst aber auch irgendwie ökologisch gut leben. Da gibt es die Klimakatastrophe. Dann musst du mit Informationen zum Krieg klarkommen, der in Europa stattfindet … es ist einfach unfassbar viel. Und ich glaube, dass ganz viele Menschen mittlerweile merken, dass das ein Druck ist und dass das eine Belastung ist, bei der man sich schwertut, noch die Klarheit zu bewahren. Und da ist eben die Psychologie unglaublich hilfreich, wenn man sich fragt, wie kann ich denn in solchen Zeiten trotzdem – in denen die Welt gefühlt durchdreht – selber cool bleiben und nicht durchdrehen.

Du hast es schon angerissen: Es sind ja nicht nur sehr viele Informationen, die auf einen einprasseln, sondern man durchlebt insbesondere am Handy innerhalb kürzester Zeit auch eine Art Gefühlsachterbahn. In den sozialen Medien wird man beispielsweise in einem Moment noch mit Kriegsbildern oder Nachrichten von schweren Straftaten konfrontiert. In der nächsten Sekunde gibt es dann vielleicht witzige oder süße Videos von Katzenbabys zu sehen. Wie können wir mit so viel unterschiedlichen Emotionen innerhalb kürzester Zeit klarkommen?

Das Problem ist, dass man die ganze Zeit so einen unglaublichen Kontextwechsel hat. Es ist, wie du beschreibst: Ich sehe hier das Katzenvideo, als Nächstes den Ukraine-Krieg und dann plötzlich einen Amoklauf in den USA. Und jedes Mal – das muss man erst einmal verstehen – wird mein Hirn an der Stelle kurz belohnt. Das ist ein bisschen wie Fast Food essen. Du weißt, vor dem Burger-Menü: Das wird dir nicht guttun, du wirst danach Bauchschmerzen haben. Und trotzdem essen wir das. Weil da kurz dieser Impuls da ist: Irgendetwas in mir will aber! Und das ist mit dem Konsumieren von solchen Informationen genauso. Irgendwas fühlt sich durch die News kurz informiert, irgendwas fühlt sich durch das Katzenvideo kurz beruhigt, irgendwas fühlt sich durch das Amoklauf-Statement von einem Sheriff, der stinksauer ist, vielleicht in einer Meinung bestätigt und so weiter. Diese unfassbaren Kontextwechsel und diese unfassbar kurzen, aber mächtigen Belohnungsmomente in meinem Kopf, die können mich nahezu abhängig machen.

Also eine Art Handysucht?

Es gibt jetzt keine diagnostizierbare Handysucht. Aber dass da im Prinzip eine Art Wirkmechanismus in deinem Kopf immer und immer wieder bedient wird, der nicht ganz anders ist als das, was wir von einer Sucht kennen, das liegt auf der Hand. Und im Prinzip musst du lernen, das jetzt zu durchbrechen und zu sagen, das Erste, was ich morgens mache ist, ich gebe meinem Kopf Zeit, um im Tag anzukommen. Und vielleicht schaffe ich es zumindest 20 Minuten lang, nachdem ich wach geworden bin, nicht aufs Handy zu gucken. Vielleicht, wenn man schon ein bisschen weiter ist, sogar die erste Stunde. Und sich auch durch den Tag immer wieder bewusst Momente zu nehmen, wo ich diesen kleinen Verführungen widerstehe. Dass ich frage, alles in meinem Kopf schreit gerade nach diesem Handy, aber ist das notwendig? Du weißt, das ist es nicht! Und dann merkst du vielleicht, welchen Druck dieses Gerät auf dich ausübt. Und wenn du versuchst, dem zu widerstehen, dann kannst du dich auch wieder umtrainieren. Ablenkungen bewusst entgegenhalten ist schwierig, aber etwas, das man trainieren kann.

Absurderweise gibt es gerade dafür auch diverse Selfcare-Apps. Was hältst du davon?

Viele Leute glauben, damit es ihnen besser geht, damit es vorwärtsgeht, brauchen sie noch etwas zusätzlich. Mein Ansatz wäre ganz andersherum zu fragen: Was kann ich weglassen? Was kann ich mal weniger machen? Und die Momente, wo ich es schaffe, nur mit mir alleine zu sein, wo ich Langeweile mal wieder zulasse, das ist kein angenehmer Zustand. Das ist ein unangenehmes Gefühl, dass aber trotzdem eine Funktion erfüllt. Denn Langeweile kannst du dir ein bisschen vorstellen wie Schmerz. Wenn du die heiße Herdplatte anpackst, dann sagt dir dein Körper: „Hier stimmt etwas nicht. Nimm die Hand weg!“. Langeweile ist im Grunde dasselbe für deinen Kopf. Das ist wie eine Kompassnadel, die dich darauf hinweist: „Ey, du bist auf dem Holzweg im Leben unterwegs. Du machst gerade etwas, das dich nicht vorwärtsbringt, das dich nicht erfüllt. Ändere die Richtung!“. Wenn ich jetzt immer sage, in solchen Momenten lenke ich mich mit Apps ab oder beschäftige mich mit irgendwelchen zusätzlichen Tätigkeiten, bin vielleicht in diesem Hamsterrad der Selbstoptimierung gefangen, dann nehme ich meinem Kopf ein Korrektiv. Weil diese ruhigen Momente auszuhalten, in denen ich nur mit mir alleine bin, die liefern eine unglaublich wertvolle Innenansicht auf mich. Was geht gerade in mir ab? Bin ich mit mir im Reinen, ja oder nein? Und diese riesige Geräuschkulisse, ich meine damit Geräusche im Sinne von Reizen, Ablenkung, Katzenvideos, Kriegsnachrichten, die auf uns einprasseln aus der Umwelt. Die sind etwas, was davon ablenkt.

In deinem Buch „Besser Fühlen“ schreibst du von der Wichtigkeit der Langeweile als Konsolidierungsphase, in der unser Hirn das Erlebte verarbeiten kann. In dem Kapitel gehst du auch auf eine Studie von Professor Timothy Wilson von der University of Virginia ein, bei der sich Proband:innen lieber Stromschocks verpassen, als Langeweile auszuhalten. Sagt das nicht schon alles aus?

Die Studie, die du gerade beschreibst, ist eigentlich eine meiner liebsten. Die erzähle ich auch auf der Bühne und da merkst du immer richtig, da sitzen dann Tausend Leute im Saal und du könntest ’ne Stecknadel fallen hören, weil sich alle so ertappt fühlen. Es geht ja im Prinzip so, dass der Professor sich Leute ins Labor holt und dann kriegen die einen Stromschock. Und das ist so unangenehm, dass die bereit sind, Geld zu bezahlen, statt noch einen Schock zu bekommen. Im zweiten Teil des Experiments sollen die dann gerade einmal 15 Minuten alleine in einem Raum sitzen und nichts machen, außer mit ihren Gedanken alleine zu sein. Und da liegt aber wieder dieses Stromschockgerät auf dem Tisch. Und das krasse ist jetzt, dass 25 Prozent der Frauen und 67 Prozent der Männer zugreifen und sich wirklich weh tun. Und als ich darüber nachgedacht hab und das frag ich die Leute dann auch immer: versetzt euch mal in die Lage rein, dann merkt man plötzlich: „Oh shit, das könnte mir tatsächlich auch passieren“. Mein Fazit ist dann: Wir machen heute alles lieber als Langeweile zu ertragen. Und das ist deswegen fatal, weil dieses Gefühl eigentliche eine Information für uns enthält.

Und das ist oft so, dass wir den negativen Gefühlen ausweichen. Es gibt bei der Show auch eine Sektion zur Angst, wo alle sagen „Ich will doch keine Angst haben, ich will selbstbewusst durchs Leben gehen“. Ich versuche aber den Leuten einen anderen Blick auf ihre ganz eigenen Ängste zu geben. Dass das Gefühl der Angst, auch wenns nicht schön ist, trotzdem ne wichtige Ressource für mich darstellt. Weil Angst den Fokus scharf stellt, Energie bereitstellt und Kraft für eine Herausforderung gibt, die vor mir liegt.

Ist dieser Gedankengang auf alle negativen Gefühle übertragbar? Sind diese vielleicht einfach Leitpfosten für uns?

Ja, genau, die negativen Gefühle sind Leitplanken in einem Leben, wo wir oft so tun, als wären Gefühle etwas, das albern ist, das unkontrollierbar ist, das wir nicht greifen können, das vielleicht auch eher so in die Kategorie Gefühlsduselei gehört. Aber tatsächlich musst du dir immer vorstellen, in deinem Schädel schwimmt dieses steinalte Hirn und seit 300.000 Jahren laufen wir sozusagen mit der selben Hardware als Homo Sapiens durch diese Welt. Und dieses Hirn in dem Schädel, in den kein Licht kommt, in den keine Töne kommen, in den nichts kommt, muss irgendwie versuchen, über deine Sinne, die diese Informationen liefern, die Welt zu verstehen. Und das geht nur mit Gefühlen. Und in dem Moment, wo ich jetzt sage, ich will aber meine Angst nicht wahrhaben oder ich darf mich nicht schlecht fühlen, ich darf nicht mal ein Tief haben oder ich hab‘ unglaublich hohe Ansprüche an die Liebe, dann kann ich eigentlich nur scheitern. Und deswegen ist mein Programm im Prinzip eine Einladung, den Leuten zu zeigen, wie kann ich anders mit mir umgehen, um in dieser neuen Welt mit meinem steinalten Hirn nicht auf Grund zu laufen.

Also kann man sagen, dass du psychologische Studien mitbringst, aus denen man Impulse für den eigenen Lebensalltag ableiten kann?

Ganz genau. Ich habe ganz viele Studien dabei, ganz viele spannende Experimente. Aber es wird auch total viel gelacht an dem Abend. Es ist wirklich auch eine Show, in der man gut unterhalten wird. Auch immer wieder durch den Wechsel von witzigen und ernsten Momenten, die allesamt zu Aha-Erlebnissen führen. Ich mag diese Wechsel am liebsten. Ich habe beispielsweise eine Sache dabei, das ist der „Intelligenztest für Schlaue, die nicht wissen, dass sie dumm sind“. Und da scheitert jeder. Ich auch. Oder sagen wir mal, 95 Prozent scheitern. Und dann, wenn alle gerade merken „Boah shit, ich halte mich für viel schlauer als ich wirklich bin“ und sich darüber totlachen, kommt als nächstes ein Punkt, an dem wir wieder etwas ernster über Intelligenz sprechen und den Druck, den das auf Kinder macht in Schulen. Und dann ist es plötzlich wieder ganz leise und ich erzähle von Experimenten, die eben zeigen, wie fatal das eigentlich ist, dass wir den Kindern immer mehr abverlangen, was Computer heute schon besser können als Kinder. Und dass wir, wenn wir mit unserem steinalten Hirn auf dieser Welt eine Zukunft haben möchten, eigentich viel mehr fragen müssten, wo kommen wir her? Was macht uns als Menschen schon immer aus? Und wenn wir das begreifen und erkennen, dass das nicht Schwächen sind, zum Beispiel dass wir in der Lage sind Angst zu fühlen und dass wir ein Bedürfnis nach Liebe haben oder dass wir uns langweilen können, dann wird eine Kraft frei und dann entsteht plötzlich ein neuer Blick auf einen selbst, der sehr viel verändern kann. Und das ist eigentlich mein Schönstes. Nachher kommen dann manchmal Leute zu mir zur Show, die sagen ich war schonmal da und das, was du damals über Kinder und Intelligenz gesagt hast, – das meinte eine Sozialarbeiterin -, das hat mich total gestärkt in dem, was ich tue. Da merke ich dann, da kriege ich fast selbst Gänsehaut, dafür stehe ich auf und das freut mich dann.

Zusammen mit Atze Schröder machst du den Podcast „Besser Fühlen“. Gibt es dort auch oft solches Feedback von euren Zuhörer:innen? Nehmt ihr da auch viel für euch selbst mit?

Ja, total. Die Leute schreiben Sachen, die sind zum Teil wirklich bewegend. Wenn beispielsweise eine Frau schreibt: „Ich hab jetzt mit meinem Mann über das Thema Eifersucht gesprochen, was ihr im Podcast behandelt habt, das haben wir uns vorher nie getraut und das hat uns einen neuen Blick auf die Beziehung gegeben“. Oder ich weiß auch von Leuten, die sagen, ich warte schon so lange auf einen Therapieplatz und euch hier zuzuhören, hilft mir irgendwie, die Zeit zu überbrücken. Auch wenn wir natürlich nicht den Anspruch haben, eine Therapie zu ersetzen – was auch total vermessen wäre – wissen wir alle, dass die Wartezeiten in Deutschland so lange sind und dass so viele Menschen gleichzeitig psychisch leiden. Und ich glaube, dass alles, was dazu beiträgt, dass wir dieses Tabu aufbrechen und dass Leute damit lockerer und schambefreiter umgehen können, ist wichtig. Das ist etwas, was mich persönlich total antreibt. Und Atze auch.

Das Interview führte SOL.DE-Redakteur Timo Holl wenige Tage vor dem Auftritt von Dr. Leon in Windscheid in Saarbrücken.