Nach Freilassung von Mörder und Vergewaltiger: Fall schlägt weiter Wellen

Wegen eines zu langen Prozesses kommt ein junger Mann aus seiner Untersuchungshaft frei. Dabei ist er wegen Mordes und Vergewaltigung einer Jugendlichen verurteilt. Sind die Gerichte überlastet? Justizminister Mertin will im Rechtsausschuss Stellung nehmen.
Der Verurteilte hatte eine 17-Jährige vergewaltigt und erwürgt. Symbolfoto: dpa-Bildfunk
Der Verurteilte hatte eine 17-Jährige vergewaltigt und erwürgt. Symbolfoto: dpa-Bildfunk

Der Fall eines wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilten 19-Jährigen, der wegen zu langer Verfahrensdauer aus der Untersuchungshaft freigekommen ist, schlägt weiter Wellen. Der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin (FDP) will laut einem Sprecher auf eigene Initiative im Rechtsausschuss des Landtags am 11. November über den entsprechenden Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Zweibrücken berichten.

Die Entscheidung ist auf viel Kritik gestoßen. Der Deutsche Richterbund spricht von immer längeren Strafprozessen. In Rheinland-Pfalz seien 2021 laut der „Deutschen Richterzeitung“ neun Haftbefehle aufgehoben worden.

Verurteilter seit März 2020 in U-Haft

Der wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilte 19-Jährige war seit März 2020 in Untersuchungshaft gewesen. Das Urteil des Landgerichts Frankenthal vom August 2022 ist noch nicht rechtskräftig. Formal dauerte die Untersuchungshaft daher an. Der junge Mann hatte dem ersten Urteil zufolge am 12. März 2020 eine 17-jährige Jugendliche an einem Weiher in Ludwigshafen vergewaltigt und erwürgt. Zudem missbrauchte er laut Richterspruch drei weitere Mädchen sexuell.

Nur an 57 Tagen verhandelt

Der Prozess gegen den damals 17-Jährigen hatte im September 2020 vor dem Landgericht Frankenthal begonnen. Im August 2022 wurde er zu zehn Jahren Jugendstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft und er legten beide Revision ein. Seine zusätzliche Haftbeschwerde hatte Erfolg: Das Pfälzische OLG Zweibrücken hob den Haftbefehl auf. Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei mit dem Anspruch des Angeklagten auf eine beschleunigte Verurteilung nicht mehr vereinbar, die Verzögerungen habe nicht er verschuldet. In dem fast zweijährigen Prozess sei nur an 57 Tagen verhandelt worden, an 20 dieser Tage weniger als zwei Stunden. Die Verzögerung summiere sich so auf fast sechs Monate. Das Landgericht Frankenthal verweist auf eine aufwendige Beweisaufnahme, viele Prozessbeteiligte und auf Krankheitsfälle inklusive Corona.

Mertin betont, die Unabhängigkeit der Justiz sei eine der tragenden Säulen des deutschen Rechtsstaates: „Als Justizminister nehme ich deshalb bewusst keinerlei Wertungen von Entscheidungen unabhängiger Gerichte vor.“

Für die Eltern des Opfers ist die Situation unerträglich

Der Anwalt der Nebenklage, Christoph Hambusch, sagt, den Eltern der getöteten Jugendlichen gehe es nach der vorläufigen Freilassung des 19-Jährigen sehr schlecht. „Für sie ist es eine unerträgliche Situation.“ Der OLG-Beschluss sei nach seiner „ersten groben rechtlichen Einschätzung“ nicht nachzuvollziehen.

Anwalt: Verurteilter wird nicht fliehen

Der Verteidiger des 19-Jährigen, Alexander Klein, erklärt, der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe könnte über die eingelegten Revisionen nach vorsichtiger Schätzung womöglich erst in etwa einem Jahr entscheiden. Ohne Haftbeschwerde säße sein Mandant dann dreieinhalb Jahre in U-Haft. Das wäre eine außergewöhnlich lange Zeit für diese Art des Freiheitsentzugs und somit „vertane Lebenszeit“.

Sollte das erstinstanzliche Urteil je nachdem, wie der BGH entscheidet, rechtskräftig werden, müsste der junge Mann seine Strafhaft antreten. Rechtsanwalt Klein sagt, sein Mandant sei familiär gebunden und nicht reich – seine Erfahrung sage ihm daher, dass der junge Mann nicht fliehen werde. „Natürlich kann ich meine Hand dafür nicht ins Feuer legen“, ergänzt der Jurist.

Polizei-Patrouillen kümmern sich um Sicherheit des Verurteilten

Sein ohne Auflagen vorerst auf freien Fuß gesetzter Mandant befinde sich an einem für die Öffentlichkeit unbekannten Ort. In sozialen Netzwerken werde nach ihm gesucht. „Die Polizei schaut, dass er in Sicherheit ist“, sagt Klein. Es gebe Patrouillen.

Opposition kritisiert Freilassung

Dabei geht es wohl auch um die allgemeine Sicherheit. Die CDU-Landtagsopposition hat es als inakzeptabel bezeichnet, „dass eine Person, der derartig schwere Verbrechen zur Last gelegt werden, aus der Untersuchungshaft entlassen werden muss, weil das Gerichtsverfahren nicht in angemessener Zeit zum Abschluss gebracht werden kann“. Die AfD-Opposition warnt, von dem 19-Jährigen gehe „eine nicht unerhebliche Gefahr für die Gesellschaft aus“. Laut CDU muss Minister Mertin erklären, „ob mangelhafte Personalausstattung“ des Landgerichts Frankenthal die Ursache für die Freilassung war.

Richterbund: Hohe Arbeitsbelastung in der Justiz

Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes (DRB), Sven Rebehn, erläutert: „Die seit Jahren steigende Verfahrensdauer und die wachsende Zahl von U-Haftentlassungen wegen unverhältnismäßig langer Verfahren sind Symptome einer hohen Arbeitsbelastung der Strafjustiz.“ Eine Trendwende könne nur mit mehr Personal gelingen. „Hinzu kommt, dass Strafverfahren immer aufwendiger werden, weil internationale Bezüge zunehmen, die Komplexität des Rechts stetig steigt und die auszuwertenden Datenmengen in der digitalen Welt sprunghaft wachsen“, ergänzt Rebehn.

Dass die Strafjustiz am Limit arbeite, zeige sich auch daran, dass in den vergangenen fünf Jahren bundesweit fast 300 Tatverdächtige wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen aus der U-Haft entlassen worden seien. Dabei sei die Zahlen gestiegen: Nach 40 Fällen im Jahr 2020 seien es im vergangenen Jahr 66 gewesen.

Verwendete Quellen:
– Deutsche Presse-Agentur