Leben als Vollzeit-Selbstversorger: Kein Job, aber jede Menge Arbeit

Angesichts wirtschaftlicher Unsicherheit, Inflation und wiederkehrender Lebensmittelskandale klingt es verlockend, sich unabhängig von bestehenden Strukturen und Lieferketten selbst zu versorgen.

Man weiß, was in den Lebensmitteln enthalten ist, die auf den Tisch kommen, und ist unbeeinflusst von Preissteigerungen und Lieferschwierigkeiten. Der einzige Haken: Selbstversorgung als Vollzeitjob erfordert eine Menge Disziplin, Bedingungen und Einschränkungen.

Sich selbst versorgen

Der Begriff Selbstversorger kann enger oder weiter gefasst werden, vom Selbstversorger-Balkon oder dem Schrebergarten mit saisonalem Obst und Gemüse über die komplette Selbstversorgung mit pflanzlichen Lebensmitteln plus Fleisch, Eier, Wolle bis hin zur völligen Autarkie, der reinen Subsistenzproduktion. Ein hoher Grad an Selbstversorgung klingt aus mehreren Gründen verlockend:

  • Gesunde Lebensmittel – Wer keine Pestizide verwendet, findet diese nicht in seinem Obst und Gemüse.
  • Planungssicherheit – Inflation findet auf dem eigenen Acker nicht statt.
  • Regionalität – Vermeidung langer Transportwege.
  • Kein Verpackungsmüll – Der eigene Unverpackt-Laden liegt vor der Haustür.
  • Gesundheit – Arbeit in der freien Natur stärkt Körper und Geist.
  • Erfolgserlebnisse – Man sieht, fühlt und schmeckt, was man geschaffen hat. Dies vermissen viele im klassischen Job.
  • Wertschätzung – Man weiß, wie viel Arbeit in den Lebensmitteln steckt. Idealerweise wird nichts weggeworfen.
  • Innere Balance – Leben im Einklang mit den Jahreszeiten fördert Wohlbefinden und guten Schlaf.
  • Allergie-Risiko sinkt – Regionalität und Saisonalität vermindern das Allergie-Risiko.
  • Verkleinerung des ökologischen Fußabdrucks.
  • Sicherheit – Vorratshaltung für den Winter und „schlechte Zeiten“.
  • Gelebte Gemeinschaft – Zusammenschluss, Unterstützung und Austausch mit Gleichgesinnten
  • Stressreduktion – Zurück zur Natur, anstatt die Gesundheit der Karriere zu opfern.

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Gelebte Utopie oder reale Alternative?

Aus dem Hamsterrad aussteigen, sich nicht länger im Job die Gesundheit ruinieren und entspannt die eigenen Lebensmittel produzieren? Laut Umfrage würde rund die Hälfte aller Deutschen gern so leben. Trotzdem bleiben Selbstversorgung oder Autarkie meist ein stiller Wunsch. Es gehören viel Idealismus, gute Planung, harte Arbeit und am besten ein finanzielles Polster dazu, diesen Traum wahr werden zu lassen. Eine ausschließliche Subsistenzproduktion bedeutet, dass alles Lebensnotwendige selbst angebaut, gejagt, gesammelt oder hergestellt wird.

Diese autarke Lebensweise finden wir heute noch bei einigen indigenen Völkern. Selbst dort werden zunehmend lokale Märkte zum Tauschen und Handeln genutzt. Die Semi-Subsistenzwirtschaft kombiniert landwirtschaftliche Selbstversorgung mit dem Verkauf überschüssiger Produkte, wobei deren Anteil weniger als 50 Prozent der Erzeugnisse beträgt. Diese Art der Selbstversorgung wird in den südlichen und östlichen europäischen Staaten in besonderem Maße betrieben. Meist sind es Familien, die kleine Bauernhöfe mit bis zu 5 Hektar Anbaufläche bewirtschaften.

Ohne Geld geht es nicht

Komplett ohne Geld zu leben, wird in Deutschland wohl eine Utopie bleiben. Sich der Krankenversicherungspflicht zu entziehen, ist nicht strafbar laut Strafgesetzbuch, kann aber unangenehme Folgen haben. Für eigene Anbauflächen ist jährlich Grundsteuer zu entrichten, alternativ ein Pachtzins für gepachteten Acker zu zahlen.

Auch über die Altersvorsorge sollte man als Vollzeit-Selbstversorger zumindest nachdenken. Unsere Vorfahren zogen sich auf dem Bauernhof aufs Altenteil zurück und wurden von den Kindern und Enkeln mitversorgt. Wer kann und will das heute seinen Nachkommen zumuten?

Weitere Hürden, die Vollzeit-Selbstversorger zu meistern haben:

  • Anfang sind Investitionen nötig. Je unabhängiger man leben und wirtschaften möchte, desto mehr Geld muss zunächst in die Hand genommen werden, für Saatgut, Tiere, Windrad, Solarpaneele, Gewächshaus, Wasserversorgung, Klärgrube, Getreidemühle und Vorratsbehälter. Weitere Investitionen werden folgen.
  • Wer auf bestehende Infrastruktur zugreifen möchte, muss diese bezahlen können. Strom, Wasser, Abwasser, Internet usw. gibt es nicht kostenlos.
  • Eine gute Planung ist die Grundlage optimaler Versorgung. Dafür braucht es Wissen und Erfahrung, die ein Neu-Selbstversorger nur bedingt mitbringt.
  • Es gibt keine geregelte Arbeitszeit. Ein 12- oder 14-Stunden-Arbeitstag ist keine Seltenheit. Viehhaltung kennt weder Urlaub noch Wochenende.
  • Finanzielle Abhängigkeiten bleiben, bzw. verschieben sich. Preise für Saatgut, Tierfutter, notwendige Technik unterliegen ebenfalls der Inflation.
  • Abhängigkeit vom Wetter, Wassermangel bzw. Wasserüberschuss kommt hinzu. Wie Tierseuchen und Ackerschädlinge können sie existenzbedrohend sein.
  • Als Grundlage benötigt man eine eigene, genügend große, geeignete Anbaufläche. Ausnahmen bestätigen die Regel, es gibt Menschen, die ohne eigenes Grundstück Selbstversorgung betreiben.

Wie viel Anbaufläche braucht ein Mensch?

Wenn wir in den Medien vom Selbstversorgergarten lesen, ist damit meist eine Teil-Selbstversorgung gemeint. Ein Kleingarten in Deutschland ist im Durchschnitt 370 m2 groß und reicht nicht für die komplette Selbstversorgung einer Person mit Obst, Gemüse, Kartoffeln und Getreide. Statistisch gesehen stehen jedem Menschen auf dieser Welt rund 2.000 m2 Anbaufläche zu.

Das klingt viel, muss aber nicht nur den Bedarf an pflanzlichen Lebensmitteln und Tierfutter für die Fleischerzeugung decken, sondern auch Energiepflanzen (z.B. Holz) und Faserpflanzen (z.B. Baumwolle für Textilien und Kleidung) tragen. In der Nähe von Berlin wird derzeit beim Weltacker-Experiment geprobt, ob das möglich ist. In Deutschland benötigen wir pro Kopf 2.700 m2 Ackerfläche, also 700 m2 pro Person mehr, als uns im Weltmaßstab zusteht. Davon entfallen allein 790 m2 auf Tierfutter für das Schweinefleisch, das wir verzehren.

Will ein erwachsener Mensch alle notwendigen Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette aus rein pflanzlichen, selbst angebauten Lebensmitteln aufnehmen, benötigt er etwa 650 m2 Anbaufläche.

Wann Selbstversorger werden?

Der Einstieg in die Teil- oder Vollzeitselbstversorgung ist jederzeit möglich. Bei denjenigen, die ihren gesamten Tagesablauf der Selbstversorgung widmen, gibt es altersmäßig zwei Hauptgruppen. Einerseits sind es die Jungen, die anders leben wollen als ihre Eltern, ohne Bausparvertrag, Lebensversicherung, Karriere und Reihenhaus. Sie beginnen, sich ihr eigenes Leben aufzubauen, nur mit dem Nötigsten.

Andererseits steigen viele spät auf Selbstversorgung um, wenn ihr Berufsleben beendet ist. Das muss nicht erst bei Erreichung des gesetzlichen Rentenalters sein. Mit Hilfe des FIRE-Konzepts, in Deutschland auch unter dem Namen Frugalismus bekannt, soll es möglich sein, im Alter von 30 bzw. 40 Jahren in den Ruhestand zu wechseln. Wobei Ruhestand nicht gleichzusetzen ist mit Nichtstun, sondern es wird getan, worauf man Lust hat. Das kann zum Beispiel ein Leben als Selbstversorger sein.

Schritt für Schritt in die Selbstversorgung

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Man muss nicht sein ganzes Leben auf den Kopf stellen, um Selbstversorger zu werden. Wer auf dem heimischen Balkon Chilischoten anbaut und damit seinen Jahresbedarf deckt, oder wer nur noch Eier von eigenen Hühnern verwendet, der darf sich zumindest in diesem Bereich Selbstversorger nennen. Das Spektrum lässt sich schrittweise erweitern, indem zu den Chilis noch Salat aus dem Balkonkasten kommt oder das Futter für die Hühner auf einem kleinen Stück Land selbst angebaut wird.

Wer das Thema Selbstversorgung weiter fassen möchte, kann beispielsweise seine eigenen Kosmetika und Reinigungsprodukte selbst herstellen. Anleitungen dafür findet man auf unzähligen Websites oder in Büchern. Mit Kreativität und Fantasie fertigen viele Selbstversorger zum Beispiel Seifen, Badezusätze, Deko aus Naturmaterial, aber auch Kleidung aus Leder, Wolle oder Filz.

Diese lassen sich ebenso wie den Eigenbedarf übersteigendes Obst, Gemüse und Eier gut verkaufen. Mit dem Erlös werden die oben genannten finanziellen Verpflichtungen wie Krankenversicherung, Internet und Grundsteuer, aber auch notwendige Investitionen beglichen.
Um direkt in die Vollzeit-Selbstversorgung einzusteigen, sollte man nach Gleichgesinnten Ausschau halten. Entweder man startet gemeinsam, schließt sich einer bestehenden Initiative an oder tauscht sich zumindest gedanklich aus und profitiert von deren Erfahrungen. Auf Grund der oft günstigen Grundstückspreise entstanden im östlichen Teil Deutschlands zahlreiche Selbstversorgerkommunen, denen man sich womöglich anschließen kann. Oft ist hier zumindest vorübergehend „Wohnen gegen Hand“ möglich, sodass Interessierte mitmachen und lernen können.

Fazit

Vollzeit-Selbstversorgung ist ein interessantes Lebensmodell mit vielen positiven Aspekten wie Wertschätzung, Nachhaltigkeit, Saisonalität, Regionalität und Gesundheit. Wer sich darauf einlässt, den erwartet viel Arbeit, aber auch viel Freude.