Millionen-Förderung für Saarbrücker Erbgut-Forscher
Saarbrücken . Epigenetik – wie bitte? Mit dieser Vokabel wussten noch vor zwei Jahrzehnten selbst medizinisch gebildete Menschen nur wenig anzufangen. Die Vorstellung, dass es außer dem Erbgut in unseren Körperzellen noch einen zweiten Regelkreis geben könnte, der alle Funktionen des Organismus beeinflusst, hörte sich wie eine Geschichte aus dem Märchenland der Esoterik an.
Doch mittlerweile haben die Forscher herausgefunden, wie unerhört kompliziert die biochemische Maschinerie ist, welche die 30 000 Gene in jeder der zehn Billionen Zellen unseres Körpers steuert. Obwohl jede Zelle denselben Satz Gene besitzt, ist in den Organen jeweils nur ein Teil aktiv. Zellen des Blutes, in Herz, Hirn oder Haut nutzen nur die für sie wesentlichen Teile des Erbguts. Nicht benötigte Gene werden ganz oder teilweise mit einer Isolierschicht überzogen und so abgeschaltet. Sie sind maskiert, wie die Fachleute sagen. Jede Zelle hat ihre bestimmte Maskierung, die Forscher nennen es das Epigenom. Der Begriff ist eine Zusammenziehung aus „Genom“ (die Gesamtheit unserer Gene) und der griechischen Vorsilbe „epi“, was für „oberhalb“ oder „zusätzlich“ steht.
Das Epigenom ist im Gegensatz zum Erbgut nicht fest gefügt. Alter, Medikamente, Umwelteinflüsse, Ernährung und sogar Stress können die Isolierschicht verändern – zum Guten wie zum Schlechten. Solche Veränderungen sind der Schlüssel zum Verständnis vieler Krankheiten, haben die Epigenetiker erkannt. Ihre Forschung könnte damit in Zukunft nicht nur die Behandlung von Krankheiten verbessern, sondern der Medizin sogar Mittel an die Hand geben, um sie zu verhindern.
„Die Epigenomforschung ist ein Schlüsselbereich der modernen Medizin “, erklärt Professor Jörn Walter, Epigenetiker der Saar-Universität. Die Saarbrücker Forscher untersuchen unter anderem, wie Zellen des Immunsystems lernen, ihre Epigenomprogramme so zu steuern, dass sie bei einer Infektion richtig funktionieren. Mit dem Deutschen Rheumaforschungszentrum in Berlin untersuchen sie dabei einen speziellen Zelltyp: die sogenannten Gedächtnis-T-Zellen. Jörn Walter bezeichnet sie auch als Teil der „schnellen Eingreiftruppe“ des Immunsystems, die Gefahren erkennt und erste Abwehrschritte einleitet.
Ihren Namen haben die Zellen vom Thymus, einem Organ in Höhe des Brustbeins, das nur bis zur Pubertät aktiv ist. In dieser Kinderstube des Immunsystems lernen T-Zellen zum Beispiel, Bakterien, Viren und entartete Zellen zu erkennen. „Und bei dieser Programmierung spielen epigenetische Prozesse eine Schlüsselrolle.“ T-Zellen, deren Programmierung misslingt oder die sich gegen Zellen des eigenen Körpers richten würden, werden hier gleich wieder abgebaut.
Ausgebildete T-Zellen des erwachsenen Immunsystems patrouillieren durch den Organismus auf der Jagd nach biologischen Strukturen, die als fremd und gefährlich eingestuft werden. Bei einer Infektion fährt das Immunsystem dann die Produktion spezieller, gegen diesen Erreger gerichteter T-Zellen schlagartig hoch. Ist die Gefahr gebannt, werden auch die spezialisierten Abwehrzellen wieder abgebaut. Jedoch nicht zur Gänze. Ein Teil bleibt als sogenannte Gedächtnis-T-Zellen zurück. Sie können sich an den Erreger erinnern, mit denen sie einmal in Konflikt geraten sind. Diese epigenetisch programmierten Zellen können sich bei einer neuerlichen Infektion schnell wieder vermehren. Solchen Veränderungen sind die Saarbrücker Forscher auf der Spur. Sie untersuchen, wie sich ursprüngliche T-Zellen in spezielle Kämpfer (Effektorzellen) verwandeln, wie sich aus ihnen später Gedächtniszellen entwickeln und ob sich diese möglicherweise später an speziellen „Parkplätzen“ in unserem Körper sammeln.
„Wir wissen bereits, welche Programmänderungen im Genom passieren und welche epigenetischen Programme T-Zellen zur schnellen Eingreiftruppe des Immunsystems machen“, erklärt Jörn Walter. In einem weiteren Schritt gehe es darum, herauszufinden, unter welchen Umständen T-Gedächtniszellen ihr Gedächtnis verlieren können. Wenn das geschieht, können sich diese Immunzellen gegen den eigenen Körper richten. So entstehen Autoimmunkrankheiten und chronische Entzündungen.
Um solche fehlgeleiteten Zellen bekämpfen zu können, ist es erst einmal nötig, gute und schlechte T-Zellen sauber unterscheiden zu lernen. „Die normalen Zellen kennen wir jetzt sehr genau“, so Jörn Walter. Die Steckbriefe schädlicher T-Zellen zu erstellen, verlangt allerdings eine gewaltige Computerleistung. Schon bei der Untersuchung eines einzigen Zelltyps, so eine Faustformel der Epigenetik , entstehen 50 Terabyte Rohdaten. Das entspricht etwa dem Fassungsvermögen eines Dutzends sehr großer PC-Festplatten. „Und wir brauchen viele Analysen eines Zelltyps, allein um herauszufinden, was eine gesunde Zelle von einer kranken unterscheidet.“ Die dabei anfallenden Datenmengen hätten noch vor wenigen Jahren selbst Rechenzentren überfordert. Heute können sie die Saarbrücker Epigenetiker mit Hilfe ihrer Kollegen des Max-Planck-Instituts für Informatik analysieren.
Die Epigenetik hat das Potenzial, die Behandlung von Entzündungskrankheiten im 21. Jahrhundert einen großen Schritt voranzubringen, ist der Saarbrücker Wissenschaftler überzeugt. Die Europäische Union will diese Forschung künftig im Projekt Syscid („A systems approach to chronic inflammatory diseases“) fördern. Es wird von der Universität Kiel geleitet, die Saarbrücker Forscher sind an Syscid wesentlich beteiligt. Im Verbund mit 13 europäischen Teams untersuchen sie zum Beispiel Veränderungen im Abwehrsystem, die zu Autoimmunkrankheiten wie Rheuma, Morbus Crohn und Lupus führen. Die EU finanziert die Forschung mit über 14 Millionen Euro, 1,2 Millionen fließen an die Saar-Uni.
„Epigenomforschung ist digitale Biologie“
Die Saar-Uni spielt in dieser Schlüsseldisziplin eine zentrale Rolle – Doch die künftige Entwicklung ist ungewiss
In Sachen Epigenetik spielt das kleine Saarland eine große Rolle. Denn hier sitzt die Zentrale von DEEP, des „Deutschen Epige- nom-Projekts“. Leiter des 20- Millionen-Euro-Programms, das die Arbeit von 21 Forschergrup- pen zusammenfasst, ist Profes- sor Jörn Walter von der Saar- Universität.
Der genetische Code entspricht stark vereinfacht formuliert dem Betriebssystem eines Computers, in dem alle nutzbaren Funktionen zusammengefasst sind. Welche wann tatsächlich aufgerufen werden, entscheiden aber erst die zusätzlich auf dem Rechner installierten Anwendungsprogramme. Erst solche Apps machen einen Computer zu einem nützlichen Helfer.
Die Rolle der Apps spielen in den Zellen epigenetische Strukturen, die auf dem Träger der Erbinformationen (DNS) sitzen. Sie können dort Gene ein- und ausschalten und steuern zum Beispiel, wie sich die 250 unterschiedlichen Zelltypen unseres Körpers entwickeln, obwohl alle Zellen dasselbe Erbgut besitzen.
Epigenetische Strukturen spielen auch eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Krankheiten von Alzheimer bis Krebs. In Deutschland befassen sich seit 2012 Wissenschaftler des „Deutschen Epigenom-Projekts“ (DEEP) mit diesen Themen. Seine Zentrale sitzt an der Saar-Uni in Saarbrücken . Die DEEP-Forscher erhoffen sich von ihren Studien unter anderem bessere Therapien für Stoffwechsel- und Autoimmunkrankheiten . Erste Ergebnisse haben sie nun gemeinsam mit ihren internationalen Partnern in mehreren wissenschaftlichen Texten unter anderem zum Langzeit-Gedächtnis der Zellen und der Entwicklung des Immunsystems veröffentlicht.
Seit der Jahrtausendwende kennt die Forschung den kompletten Code des menschlichen Erbguts. „Doch das ist nur der erste Schritt“, erklärt Jörn Walter. „Wir brauchen das Epigenom um zu wissen, in welchen Zellen an welchen Stellen welche Funktionen zu welchem Zeitpunkt aktiv sind.“ Das bedeute Forschung großen Stils, für die es früher keinerlei Werkzeuge gegeben habe.
Wer Werkzeug sagt, meint in der Epigenetik Software. Ohne große Rechenzentren und neue Techniken der Datenanalyse sei die Verarbeitung der riesigen Datenmengen, die hunderte Terabyte umfassen können, nicht möglich. „Epigenomforschung ist digitale Biologie und ohne starke Informatik nicht möglich“, so Jörn Walter. „Und genau das macht wiederum die Stärke des Standorts Saarland aus.“ Erst die Kooperation mit den Arbeitsgruppen des Max-Planck-Instituts für Informatik um Professor Thomas Lengauer habe das DEEP-Konsortium ermöglicht.
Während die EU jedoch künftig Millionen in die epigenetische Forschung investiere, laufe im Oktober die Finanzierung des deutschen DEEP-Projekts aus. Über einen Anschluss sei bisher nicht entschieden. Das ärgert den Saarbrücker Epigenetiker, der in dieser Forschung den Schlüssel zur Medizin der Zukunft sieht. „Wenn wir hier nicht weitermachen, fallen wir in wenigen Jahren auf den Status eines Entwicklungslandes zurück.“
Zum Thema:
T-Lymphozyten gehören zu den weißen Blutkörperchen. Die einige tausendstel Millimeter großen Zellen können sich mit faserartigen Strukturen in Richtung eines Entzündungsherdes bewegen, fremde Zellen erkennen und zerstören. Sogenannte Effektor-T-Zellen bekämpfen Erreger, Suppressor-Zellen vermeiden eine Überreaktion. Gedächtnis-T-Zellen speichern Informationen über die Erreger.